gegenüber
"gegenüber"
Lesung mit Gedichten und Texten von
Dagmar Nick (1926) und
Ernst Jandl (1925-2000)
anläßlich der Ausstellung "Gegenüber"
Arbeiten mit Papier
von Sylvia Händel
und Sarah Reuß
in der Martin Luther Kirche, Bremen-Findorff
Februar 2002
Dagmar Nick
An eine diffamierte Dame
Freundin, mein schuppiges Luder,
wer wollte sich nicht an dir messen,
Erkenntnisträchtige,
bäuchlings einen Biß mit dir tauschen
und Giftbäume plündern,
um zu wissen, wo Gott wohnt!
Du hast die Erde bevölkert, Schöne,
und man hat dich verflucht,
eingefangen als Corpus delicti,
Erfindung der Erbsünder. Lache,
mein schuppiges Luder,
und räche dich an den Lechzenden,
fahre den Heuchlern ans Bein,
schlage ihnen ein Schnippchen, den Kerlen
aus Adams Geschlecht.
Genesis 3, 14
Schlange
Fleisch meines Fleisches,
Anruf des Blutes,
geschwisterlich mir gepaart:
wir tragen die Frucht aus,
das Scheusal Liebe,
die Angst, Unheil zu gebären.
Mitternachts streifen wir eine Haut ab
und werben für Unzucht,
stahläugig, ewig offenen Lids,
kriechen auf unserem Bauch
ein Leben lang,
lieben und speien Verachtung
über die Zahnlosen,
die Einzüngigen.
Laß uns den Sabbath feiern,
Schlange,
einen Menschen begraben,
Erde fressen,
die Erde verteidigen,
ehe wir werden wie sie.
Spiele
Scheinparadiese,
Schlupfwinkel mänadischer Orgien,
da büßen wir nicht,
da holzen wir ab,
was wir liebten,
schnüren uns Giftzähne um den Hals
und rauben das Kleid
der Lilith;
schlangenhäutig
tanzen wir,
tanzen uns ein
in die Rhythmen der Wollust,
während der Liebe Leichnam,
das Ungeheuer,
in uns verrottet,
Aas,
Aas seit gestern,
seit dem Beginn aller Zeit.
Hybris
Wir sind nicht mehr die gleichen.
Uns ätzte das Leben leer.
Es gibt keine mystischen Zeichen,
es gibt kein Geheimnis mehr.
Wir treiben durch luftlose Räume,
erloschenen Angesichts.
Die Nächte verweigern uns Träume,
die Sterne sagen uns nichts.
Wir haben den Himmel zertrümmert.
Das Weltall umklammert uns kalt.
Der Tod läßt uns unbekümmert.
Wir haben Gewalt.
Unterwegs II
Nimm ein neues Boot. Der Himmel schwankt.
Jedes Bleiben ist schon ein Zuviel.
Immer wieder bist du angelangt,
aber nie am Ziel.
Laß dein Herz los, denn es ist zu schwer.
Neue Inseln werden dir bewußt.
Und das Abschiednehmen zählt nicht mehr,
nach so viel Verlust.
Eine kleine Welle, weißumrankt,
löscht die fremden Horizonte aus.
Immer wieder bist du angelangt,
aber nie zuhaus.
Aufbruch
Tritt in die Spuren des Mondes und näh dir ein Kleid
aus Sternstaub und Kranichgefieder,
fühle den Aufwind der Ewigkeit
und das Niemehrwieder.
Hast du nicht lange schon alles geopfert? Und wem
bist du noch auserkoren?
Finde ein anderes Sonnensystem.
Diese Welt ist verloren.
Laß deine Zukunft zurück und den Schlüssel vom Haus
und die Lichter im Fensterrahmen,
schütte die Spreu deiner Träume aus
und vergiß deinen Namen.
Aber verleugne dein Herz
Aber verleugne dein Herz,
denn es wird dich verraten.
Pflüge Enttäuschung und Schmerz
unter die Drachensaaten.
Fliehe! Die Zeit flieht mit dir.
Und du kehrst nicht mehr wieder.
Laß die Vergangenheit hier,
brenne sie nieder.
Stürze, zerstöre dein Zelt
und sprenge die Brücken,
denn die Erinnerung fällt
dir noch in den Rücken.
Fliehe, als hättest du nie
mehr als die Liebe besessen,
aber die Liebe, auch sie,
sollst du vergessen.
Zeitlose Stunde
Bis diese Stunde, der wir bestimmt sind,
uns aufnimmt,
bis diese zeitlose Stunde
uns hundertfältig
vernichtet und heilt
und wieder erschöpft,
bis wir uns ansinken,
Schulter und Herz
über dem Bodenlosen,
bis uns der Strom
hinüberträgt, endlich -
wieviel Raum
zwischen gestern und morgen,
wieviel Vergeblichkeit,
wieviel Vergeben!
ernst jandl
flächen überzieht
dinge verhüllt
an kleidern hängt
aus winkeln quillt
regale füllt
im lichte spielt
staub, mein verstreutes ebenbild
mir schwebt
nichts vor
doch ist
um mich
ein flattern
anleitung zum totalen frieden
wer
will
sagen
gehn
den
mußt
stumm
machen
wer
will
hören
gehn
den
mußt
taub
machen
wer
will
sehen
gehn
den
mußt
blind
machen
wer
will
laufen
gehn
den
mußt
lahm
machen
wer
will
fliegen
gehn
den
mußt
schwer
machen
my own song
ich will nicht sein
so wie ihr mich wollt
ich will nicht ihr sein
so wie ihr mich wollt
ich will nicht sein wie ihr
so wie ihr mich wollt
ich will nicht sein wie ihr seid
so wie ihr mich wollt
ich will nicht sein wie ihr sein wollt
so wie ihr mich wollt
nicht wie ihr mich wollt
wie ich sein will will ich sein
nicht wie ihr mich wollt
wie ich bin will ich sein
nicht wie ihr mich wollt
wie ich will ich sein
nicht wie ihr mich wollt
ich will ich sein
nicht wie ihr mich wollt will ich sein
ich will sein.
leise unruhe
an ruhigen tagen
sitzen und fragen:
geht es immer so weiter?
geht es immer so weiter?
geht es immer so weiter?
geht es immer so weiter?
geht es immer so weiter?
geht es immer so weiter?
geht es immer so weiter?
ach ginge es doch immer so weiter
trost in wolken
in blauen
himmeln
wolken
so weiß
mit grauen
seiten
o trost:
nicht alles
ist rein!
o wolken
mit grauen
seiten!
der unlogische knabe
wie meine mutter mir gesagt hat
wie das mit den kindern ist
hab ich mir gedacht: wie schade
daß ich keine frau werde
ich hab mir nicht gedacht: wie schade
daß ich kein mädchen bin
denn ein mädchen sein wollte ich nie
obwohl es anders nicht gegangen wäre
man sieht daran der knabe
hat nicht logisch gedacht
aber was er dann als mann gemacht hat
ist eine ganz andere geschichte
hosi
anna
maria
magdalena
hosi
hosianna
hosimaria
hosimagdalena
hosinas
hosiannanas
hosimarianas
hosimagdalenanas
ananas
mann & frau
in der welt des deutschen
der blut die blüte
der bruck die brücke
der buhn die bühne
der burd die bürde
der bust die büste
der flot die flotte
der full die fülle
der holl die hölle
der hull die hülle
der hutt die hütte
der kruck die krücke
der kuhl die kühle
der kust die küste
der luck die lücke
der muck die mücke
der muh die mühe
der muhl die mühle
der mutz die mütze
der pfutz die pfütze
der raud die räude
der rug die rüge
der sag die säge
der sund die sünde
der tuck die tücke
der tut die tüte
der wust die wüste
...er habe immer etwas zu sagen gehabt, und er
habe immer gewußt, daß man es so und so und so
sagen könne; und so habe er sich nie darum
mühen müssen, etwas zu sagen, wohl aber um die art
und weise dieses sagens. denn in dem, was man
zu sagen hat, gibt es keine alternative; aber für die
art und weise, es zu sagen, gibt es eine unbestimmte
zahl von möglichkeiten. es gibt dichter, die alles
mögliche sagen, und dies immer auf die gleiche
weise. solches zu tun habe ihn nie gereizt; denn
zu sagen gebe es schließlich nur eines; dieses aber
immer wieder, und auf immer neue weise.
Biographisches:
Dagmar Nick
wurde am 30.5.1926 in Breslau geboren. 1933 siedelte die Familie nach Berlin über, kehrte aber später nach Schlesien zurück.
Die Familienangehörigen gerieten wegen der "halbjüdischen" Abstammung von Dagmar Nicks Mutter in der NS-Zeit zunehmend in Isolation. 1945 floh die Familie von Schlesien nach Bayern.
1948 zog Dagmar Nick nach München, wo sie nach Aufenthalten in Köln und Israel auch heute lebt.
Dagmar Nicks Werk umfaßt neben Lyrik und historisch aufbereiteten Reiseberichten auch Essays, Hörspiele, Erzählungen und Übersetzungen.
Sie ist mit zahlreichen Preisen geehrt worden.
Dagmar Nicks erstes Gedicht wurde 1945 auf Veranlassung von Erich Kästner veröffentlicht.
Die von uns ausgewählten Gedichte wurden den Bänden "In den Ellipsen des Mondes", "Fluchtlinien" und "Zeugnis und Zeichen" entnommen.
ernst jandl
wurde 1925 in wien geboren, wo er auch bis zu seinem tode im jahr 2000 seinen wohnsitz behielt.
er ist wohl der bedeutendste deutschsprachige lyriker des vergangenen jahrhunderts und hat ein umfangreiches werk hinterlassen.
die von uns ausgewählten gedichte wurden alle aus der zehnbändigen gesamtausgabe "poetische werke", die 1997 im luchterhand verlag erschien, entnommen.
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